Neue PolizeigesetzeNach den alten Polizeigesetzen war für das Eingreifen der Polizei eine konkrete Gefahr erforderlich, d.h. eine konkrete Situation, in der eine Rechtsverletzung hinreichend wahrscheinlich war.
Beispiel: Ein entlassener Arbeitnehmer hat schon einen Schlagstock im Auto deponiert und möchte gerade sein Fahrzeug starten, um zu seinem ehemaligen Chef zu fahren und ihn zu verprügeln. Bei ungehindertem Fortgang der Ereignisse, also ohne das Eingreifen der Polizei, würde die geplante Straftat auch passieren.
Nach den neuen Polizeigesetzen, die von verschiedenen Bundesländern verabschiedet worden sind, wird die Eingriffsmöglichkeit der Polizei nach vorne verlagert, hin zu einer drohenden Gefahr. Es reicht nun die Möglichkeit, dass eine konkrete Gefahr eintreten könnte.
Beispiel: Der entlassene Arbeitnehmer hat noch keinen Plan gefasst seinen ehemaligen Chef zu verprügeln. Es ist aber nicht auszuschließen oder sogar wahrscheinlich, dass er einen solchen Plan fassen könnte.
Predictive PolicingDas Eingreifen der Polizei hängt also von der Prognose ab, wie wahrscheinlich das Eintreten einer konkreten Gefahr ist. Wie die Polizei zu dieser Prognose kommt, ist im Polizeigesetz nicht festgelegt. Auf Basis der Prognose hat die Polizei, bei einer Reihe von schweren, drohenden Straftaten, aber bereits weitgehende Eingriffsrechte, wie z.B. eine präventive Inhaftierung, das Belegen von Personen mit Aufenthaltsgeboten („Verlasse Deine Wohnung nicht!“) und Aufenthaltsverboten („Fahre nicht nach Köln!“) oder das Aussprechen von Kontaktverboten mit bestimmten Personen.
Das US Unternehmen Palantir beschäftigt sich mit der Analyse großer Datenmengen. Das Produkt Palantir Gotham, dass nach Medienberichten mindestens seit 2013 Polizeidaten in den USA auswertet[1], erstellt solche Prognosen. Unter Einbeziehung aller verfügbaren strukturierten und unstrukturierten Daten wird die Wahrscheinlichkeit ermittelt, dass eine Person vielleicht eine Straftat begehen könnte. Natürlich sind die Algorithmen ein Geschäftsgeheimnis.
Die Polizei Hessen arbeitet seit 2018 mit Palantir Gotham. In die Auswertung werden auch Daten von Facebook mit einbezogen.[2] Grundsätzlich könnte nun für jeden Bürger in Hessen eine Straftäterwahrscheinlichkeit ausgerechnet werden.
Non-Violent-ExtremismJeder kann Straftäter sein, wenn auch mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten. David Cameron brachte bereits 2014, in einer Rede vor der UNO-Vollversammlung, den Begriff des Non-Violent-Extremism in die politische Diskussion ein.[3] Es ging Cameron zwar hauptsächlich um islamischen Extremismus, aber auch Personen, die z.B. die offiziellen Untersuchungsergebnisse zum 11.September hinterfragen, rechnete er dieser Gruppe von Extremisten zu.[4] Zuvor, im gleichen Jahr, hatte Alex Schmid für den International Centre for Counter Terrorism (ICCT) in Den Haag einen Artikel zu diesem Thema veröffentlicht.[5] Schmid ist als Wissenschaftler zu den Themen Terrorismus und Radikalisierung in verschiedenen Think-Tanks und Gremien der UNO und der Europäischen Union tätig.[6]
Ein nicht gewalttätiger Extremist hat zwar noch keine Straftat begangen. Aufgrund seiner extremistischen Ideologie ist es aber sehr Wahrscheinlich, dass er eine Straftat begeht: drohende Gefahr. Schmid stellt in seinem Artikel einen Katalog von 20 Merkmalen vor, anhand derer sich ein nicht gewalttätiger Extremist erkennen lässt: prognosebasierte bzw. vorhersagende Polizeiarbeit.
FeindstrafrechtAufgrund der schwere der mutmaßlichen Straftaten muss der Staat bei Extremisten besonders wehrhaft sein. Nach dem Modell des Feindstrafrechts, der Begriff wurde 1985 von dem Strafrechtler Günther Jacobs geprägt, kann der Staat dazu auch bestimmten Personengruppen die Bürgerrechte versagen.[7] In Ausnahmefällen soll der Staat auch foltern können.
Wolfgang Schäuble, damals noch Bundesinnenminister, empfahl schon 2008 Arbeiten von Otto Depenheuer zum aktuellen Stand der Diskussion zu lesen. Der Professor von der Uni Köln schlägt vor, Terroristen als Feinde des Staates und nicht als Rechtssubjekte, also nicht als Träger von Rechten und Pflichten, zu behandeln.[8] Keine Rechte für Staatsfeinde. Auch für die politische Rechte sollte man ggf. die Grundrechte einschränken, schlägt zumindest aktuell Peter Tauber vor.[9] Von einer Einschränkung der Grundrechte für die politische Linke, im Rahmen des G20-Gipfels 2018 in Hamburg, berichtete die TAZ.[10] Bei Bedarf kann anscheinend jeder auch mal Staatsfeind sein.
Kooperation statt UnschuldsvermutungDa das Polizeigesetz nun staatliche Sanktionen aufgrund von Prognosen einer drohenden Gefahr erlaubt, die z.B. mit Datenanalysewerkzeugen wie Palantir Gotham erstellt worden sind und die auf unbekannten Methoden beruhen, fällt dem Bürger die Rolle zu proaktiv seine eigene Ungefährlichkeit und Unverdächtigkeit nachzuweisen.
In den USA werden seit den 1990er Jahren sogenannte Trusted Traveller Programme (TTP) angeboten.[11],[12] Vielflieger können sich dabei einem einmaligen, intensiven Sicherheitscheck, inkl. eines persönlichen Interviews unterziehen und dafür die Sicherheitskontrolle am Flughafen schneller passieren.
2018 wurde in Davos das Programm "Known Traveller Digital Identity (KTDI)" vorgestellt, das bis 2020 die Testphase verlassen soll. Reisende sollen ihre passive Rolle gegenüber den Sicherheitsbehörden verlassen. Aktiv werden sie dadurch, dass sie in einer App relevante persönliche Daten sammeln und den Sicherheitsbehörden freiwillig zur Verfügung stellen. Personen, die sich so transparent und unverdächtig gemacht haben, können ebenfalls die Sicherheitskontrolle schneller passieren. Auch Siliconvalley-Größen wie Google sind Partner dieses Programms.[13]
Bei der Einreise in die USA wollen die Sicherheitsbehörden auch heute schon von den Einreisenden über deren Socialmedia-Konten informiert werden.[14] Nach Passwörtern wird dabei nicht gefragt. Was aber vermutlich auch nicht nötig ist, da selbst deutsche Behörden, nach dem Telekommunikationsgesetz, bei Bedarf von den Plattformbetreibern Zugriff auf einzelne Konten verlangen können.[15]
Umfassende Datenbasis – Big DataDie vorhersagende Polizeiarbeit setzt eine umfangreiche Datenbasis voraus. Gleichzeitig wird die Auswertung riesiger Datenmengen durch moderne IT und entsprechende Analysewerkzeuge auch erst ermöglicht. So hat die Polizei Köln beispielsweise kein Problem umfangreiche Videoaufnahmen mit fest installierten Kameras auf öffentlichen Plätzen anzufertigen und die Daten 14 Tage zu speichern. Gesichtserkennung oder die Analyse verdächtigen Verhaltens von Personen, wie dies am Berliner Bahnhof Südkreuz gerade getestet wird[16], findet angeblich noch nicht statt.[17]
Obwohl die meisten Menschen freiwillig, unbewusst, unreflektiert oder, zur Nutzung populärer Dienste gezwungener Maßen, den großen IT Unternehmen umfassende persönliche Daten zur Verfügung stellen, fehlt den deutschen Behörden, zumindest offiziell legalisiert, der Zugriff auf viele dieser Daten.
Im Rahmen der Bestandsdatenauskunft haben deutsche Behörden bereits Zugriff auf eMail- oder Socialmedia-Konten. Kommunikationsdienste, die Daten wirksam verschlüsseln (wirksame Verschlüsselung ist sogar eine Empfehlung des BSI![18]), möchte Innenminister Seehofer nun verpflichten bei Bedarf eine Entschlüsselungsmöglichkeit der Daten vorzusehen.[19] Das ist im Zweifelsfall nur dadurch möglich, dass die sichere Verschlüsselung durch eine unsichere Verschlüsselung mit Hintertür ersetzt wird. Zumindest in Großbritannien wurde das generelle Verbot von Verschlüsselung auch bereits diskutiert.[20] Immerhin gibt einige Personen, die PGP zur Verschlüsselung von eMails verwenden oder ihre Festplatten wirksam verschlüsseln.
Auch der intimste Bereich soll nun für den Datenpool zugänglich gemacht werden. Wer private Gespräche in der eigenen Wohnung freiwillig mit Amazon-Mitarbeitern via Alexa teilt, soll dies zukünftig auch mit den deutschen Behörden tun.[21] Zumindest jetzt auch offiziell. US-Dienste haben im Rahmen des Freedom Acts ohnehin Zugriff auf die Daten der US-Unternehmen. Und dass der BND den Datenstrom zwischen dem deutschen Wohn- /Schlafzimmer und der US-Cloud am Datenknoten De-Cix in Frankfurt mitliest, sogar mit Absegnung durch das Bundesverwaltungsgericht, ist lange bekannt.[22]
Ein (fiktives?) SzenarioDie Sicherheitsbehörden greifen auf alle verfügbaren Daten jedes Einzelnen zu. Dabei geht es längst nicht mehr darum, ob jemand exzessiver Instagramm-Nutzer ist und seinen Alltag mit dutzenden Selfies und Fotos der eigenen Mahlzeiten dokumentiert oder sich eher datensparsam im Internet bewegt. An zentralen Plätzen wird jeder von Überwachungskameras gefilmt und die Aufnahmen gespeichert. Jede nützliche Audiosteuerung im privaten Bereich wird zur potenziellen Wanze und smarte Fernseher ohne Mikrofon werden vielleicht bald Mangelware sein. Aus all diesen Daten wird ein digitales Modell eines Menschen erstellt und die Wahrscheinlichkeit destilliert, mit der Sie ein Gefährder sind. Die Antwort der westlichen Wertegemeinschaft auf das chinesische Social-Credit-System.
Natürlich sind Sie kein Gefährder. Aber eine Wahrscheinlich von 0% wird Ihnen trotzdem eher nicht zugeordnet. Schließlich haben Sie mal nach den Ereignissen vom 11.September gegoogled und sind dabei auf dieser verschwörungstheoretischen Seite gelandet. Wahrscheinlich nur aus Neugier oder aus Versehen. Vielleicht aber auch, weil Sie im Grunde Ihres Herzens doch ein nicht gewalttätiger Extremist sind. Wer weiß schon, wie der geheime Algorithmus der polizeilichen Analysesoftware Ihr Surf-Verhalten interpretiert?
Aber zum Glück können Sie ja Ihre passive Rolle verlassen und Ihr digitales Modell positiv beeinflussen. Da heißt es Transparenz zeigen, wer verschlüsselt hat vielleicht etwas zu verbergen. Auch reicht es doch eine freie Meinung zu haben. Müssen Sie sich wirklich allzu kritisch bei Facebook äußern oder, in Anwesenheit von Alexa, allzu offen mit Freunden diskutieren? Der Analysealgorithmus ist vielleicht noch nicht ganz ausgereift. Wie schnell hat er etwas als drohend gefährlich eingestuft, dass Sie doch ganz anders gemeint hatten? Zudem haben Sie inzwischen auch ein Facebook „Libra“ Konto. Und Facebook fakelt bei #
Hatespeech nicht lange mit Sperrungen. Recht auf freie Meinungsäußerung? Nö, AGBs.[23]
Vor 2018 konnten Sie vielleicht noch entspannt sagen, dass Ihnen eine so absurde Gefährdereinstufung völlig wurscht ist, aber mit den neuen Polizeigesetzen reicht Ihre persönliche Gefährdereinstufung für eine präventive Inhaftierung leider völlig aus.
FazitUm es frei nach Murphy[24] zu formulieren: alle Daten, die erfasst werden können, werden auch erfasst.
Alle bisherigen Strategien der Datenvermeidung und des Datenschutzes sind gut. Soweit möglich kann man seine Kommunikation verschlüsseln und die Daten auf dem eigenen Rechner wirksam schützen. Wer Geräte wie Alexa nutzt, sollte das im vollen Bewusstsein der Konsequenzen für die eigene Privatsphäre tun. Und im vollen Bewusstsein, wer Zugriff auf die Daten hat.
Der politische Fahrplan ist die totale Überwachung. Alle Schritte führen in diese Richtung. Selbst wenn Gerichte einzelne Maßnahmen, wie z.B. die Vorratsdatenspeicherung, gestoppt haben, werden dieselben Maßnahmen penetrant immer wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt.[25]
Auch im kommerziellen Bereich ist der Trend klar. Spätestens mit der Einführung der 5G Technologie wird es schwer sein, auch beim besten Willen, bei der mutmaßlichen Vielzahl der vernetzten, smarten Geräte täglich nicht Unmengen persönlicher Daten zu erzeugen und weiterzugeben.
Wir brauchen eine breite Debatte zum Thema Überwachung. Wir müssen die Architekten des Überwachungsstaates in die öffentliche Diskussion zwingen. Wir brauchen ein allgemeines Bewusstsein darüber, was Überwachung für uns und für die Demokratie bedeutet. Wir brauchen Widerstand, wo immer es geht, auch auf juristischem Weg. Wir brauchen Verfassungsrechtler, Richter und Staatsanwälte die gegen die schrittweise Aushöhlung unseres Grundgesetzes aufstehen. Wir brauchen Widerstand auf der Straße und Politiker, die gegen die Überwachung kämpfen.
Und wir brauchen die technische Hoheit über unsere Daten. Solange eine Verschlüsselungssoftware durch Hintertüren in den Hardwarekomponenten ausgehebelt werden kann und solange unsere Kommunikation über private Monopolplattformen abgewickelt wird, ist Datenschutz ein theoretisches Konstrukt.
[1]
https://www.theverge.com/2018/2/27/17054740/palantir-predictive-policing-tool-new-orleans-nopd[2]
https://www.sueddeutsche.de/digital/palantir-in-deutschland-wo-die-polizei-alles-sieht-1.4173809[3]
https://www.gov.uk/government/speeches/pm-speech-at-the-un-general-assembly-2014[4]
https://www.globalresearch.ca/british-pm-david-cameron-non-violent-extremists-including-911-truthers-and-conspiracy-theorists-are-just-as-dangerous-as-isil-terrorists/5405059[5] Schmid, Alex P. 2014. "Violent and Non-Violent Extremism: Two Sides of the Same Coin?" International Centre for Counter-Terrorism - The Hague (May): 1-29.
http://www.icct.nl/download/file/ICCT-Schmid-Violent-Non-Violent-Extremism-May-2014.pdf[6]
https://en.wikipedia.org/wiki/Alex_P._Schmid[7]
https://de.wikipedia.org/wiki/Feindstrafrecht[8]
https://www.heise.de/tp/features/Freiwillige-vor-fuer-das-Buergeropfer-3416735.html[9]
https://www.fr.de/politik/cdu-politiker-tauber-verfassungsfeinden-grundrechte-entziehen-12542157.html[10]
https://taz.de/Ein-Jahr-nach-dem-G-20-Gipfel-in-Hamburg/!5515835/[11]
https://en.wikipedia.org/wiki/Global_Entry[12]
https://ttp.cbp.dhs.gov/[13]
http://www3.weforum.org/docs/WEF_The_Known_Traveller_Digital_Identity_Concept.pdf[14]
https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/visum-fuer-die-usa-social-media-auskuenfte-sind-jetzt-pflichtangaben-a-1270452.html[15]
https://dejure.org/gesetze/TKG/113.html (§113 TKG, Abs.1, Satz 2)
[16]
https://netzpolitik.org/2019/ueberwachung-am-suedkreuz-soll-jetzt-situationen-und-verhalten-scannen/[17]
https://fragdenstaat.de/anfrage/uberwachungskameras-der-polizei-koln/[18] Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI).
https://www.bsi-fuer-buerger.de/BSIFB/DE/Empfehlungen/Verschluesselung/Verschluesselung_node.html[19]
https://www.sueddeutsche.de/digital/seehofer-verschluesselung-going-dark-whatsapp-threema-1.4461954[20]
https://netzpolitik.org/2015/whatsapp-co-in-england-bald-geblockt-cameron-kuendigt-ueberwachungsausbau-im-fall-seiner-wiederwahl-an/[21]
https://netzpolitik.org/2019/alexa-co-innenminister-wollen-zugriff-auf-daten-aus-dem-smart-home/[22]
https://www.tagesspiegel.de/politik/bundesverwaltungsgericht-bnd-darf-weiter-daten-von-internet-knoten-abzapfen/22627648.html[23]
https://www.spiegel.de/netzwelt/web/facebook-baut-mit-seiner-kryptowaehrung-libra-seine-macht-aus-a-1272973.html[24]
https://de.wikipedia.org/wiki/Murphys_Gesetz[25]
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Bundesdatenschuetzer-Vorratsdatenspeicherung-endgueltig-begraben-4325579.html